Giftgas: Zeitbomben in der Ostsee
Die Wellen der Ostsee
toben, als würden sie sich aufbäumen gegen ein furchtbares Geheimnis,
das sich unter der Meeresoberfläche verbirgt: tausende Tonnen Munitionskörper
mit Giftgas aus dem Zweiten Weltkrieg, nach Kriegsende hier versenkt.
Man sieht sie nicht unbedingt, meistens deuten nur Wrackteile auf
sie hin.
Aber
irgendwo im Sand und Schlick liegen sie, korrodieren allmählich,
ihr giftiger Inhalt läuft aus. Einige Gifte, wie der Nervenkampfstoff
"Tabun" oder das Lungengift "Phosgen", werden bei Berührung mit
Wasser abgebaut und lösen sich auf.
Aber
nicht alle, wie Professor Niels-Peter Rühl vom Bundesamt für Seeschifffahrt
und Hydrographie verrät: "Es gibt Ausnahmen. Dazu gehören zum Beispiel
verschiedene Senfgas-Verbindungen wie der sogenannte C-Lost, wo
Senfgas versetzt worden ist mit einer Plastik-Masse. Und dort kann
das Wasser nur an der Oberfläche angreifen, nur an der Oberfläche
abbauen. Aber, wenn dann jemand, der nicht weiß um was es sich handelt
reingreift, dann kann er durch diesen Hautkampfstoff verletzt werden."
1945
liegt Deutschland in Trümmern. In Hitlers Munitions-Arsenalen stoßen
die Sieger auf dreihundert Tausend Tonnen Kampfstoff-Munition, die
während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zum Einsatz gekommen ist.
Ein fürchterliches Erbe, das dringend beseitigt werden muss. In
einer geheimen Mission versenken die Alliierten die Bomben im Meer.
Sie sind mit sechzigtausend Tonnen Gift gefüllt.
Etwa
die Hälfte der chemischen Waffen werden zwischen 1945 und 1947 im
Skagerrak, der Schneise zwischen Nord- und Ostsee südlich von Norwegen,
entsorgt. Ganze Schiffe mit insgesamt mehr als hunderttausend Tonnen
giftiger Munition an Bord werden in etwa tausend Meter Tiefe versenkt.
Außerdem gibt es Deponien in flacheren Gewässern: im "Kleinen Belt",
südlich von Bornholm und im so genannten "Gotland Becken", wo Munitionskörper
lose über Bord geworfen werden.
In
der Forschungsstelle des Moskauer Shirshov Instituts für Ozeanologie
in Kaliningrad, dem früheren Königsberg ist die chemische Verseuchung
der Ostsee Thema Nummer eins.
Russische Wissenschaftler haben bei den verschiedenen Deponien
der alten Munitionskörper zwischen Skagerrak und Ostsee Wasserproben
entnommen. Auch wenn die Labor-Ausrüstung nicht dem modernsten Standard
entspricht, werden hier genaue Analysen durchgeführt, um den Grad
der Verseuchung und das daraus abzuleitende Gefahrenpotential zu
bestimmen.
Für die Experten, wie Dr. Vadim Paka vom Shirshov Institut, steht
fest, dass die Kampfstoffe am Meeresboden das ökologische Gleichgewicht
des Meeres nachhaltig extrem belasten und gefährden: "Unsere Untersuchungen
vor Bornholm und im Skagerrak haben ganz eindeutig Schwermetalle
und Arsen nachgewiesen. Außerdem haben wir kürzlich mit Hilfe militärischer
Suchgeräte Spuren von Senfgas und Sarin gefunden. Das ist ein hundertprozentiges
Zeichen dafür, dass die Ummantelungen der Bomben porös sind und
hochtoxische Stoffe ins Wasser dringen."
Die
Gefährdung durch Giftstoffe bewerten die russischen Wissenschaftler
anders als ihre Kollegen im Westen. Die berufen sich auf eine "Studie
der Helsinki Kommission von Ostsee-Anrainer Staaten" von 1993. Aus
ihr geht hervor, dass "keine großräumige Kontamination aufgrund
chemischer Kampfstoffe in baltischen Gewässern zu befürchten ist".
Da keine exakten Angaben vorliegen und vor allem die USA und England
ihre Archive bis heute nicht geöffnet haben, befürchten immer mehr
russische Wissenschaftler eine ökologische Zeitbombe.
Wie
Tengiz Borisov, Vize-Admiral der Russischen Marine distanzieren
sich russische Wissenschaftler immer mehr von von dieser Interpretation:
"Nach unserer Einschätzung droht ein Desaster. Wenn wir den Austritt
und die Verbreitung der Giftstoffe nicht verhindern, sind wir im
Bezug auf die Folgen vollkommen machtlos. Auch unser Ministerium
zur Vorbeugung ökologischer Katastrophen kann dann nichts mehr ausrichten.
Wenn der Geist erstmal aus der Flasche gelassen ist, lässt er sich
nicht mehr einsperren."
Vom Skagerrak, heißt es, geht die größte Gefahr aus. Die immensen
Senfgasmengen, die dort in den nach 1945 versenkten Schiffen lagern,
laufen aus. Sie werden durch starke Meeresströmungen allmählich
in der Ostsee verteilt und gelangen über die Nahrungskette schließlich
zum Menschen. Ein angebliches Resultat: Missbildungen bei Säuglingen.
Vom Westen werden solche Gefahren vehement bestritten. So hält
Professor Niels-Peter Rühl diese Befürchtungen für übertrieben:
"Da werden Horrorszenarien konstruiert, die eigentlich mit der Realität
wirklich nichts zu tun haben. Und die Sache, die geradezu abenteuerlich
ist, ist die Tatsache, dass chemische Kampfstoffe, die in der norwegischen
See, in der norwegischen Rinne in 1000 Meter Tiefe versenkt worden
sind, durch Strömungen in die Ostsee kommen könnten und sich dort
negativ auswirken könnten. Das ist ausgeschlossen!"
Wie
ein Bericht des Schwedischen Fernsehens zeigt, steht fest, dass
Senfgas aus durchgerosteten Munitionskörpern schon seit den Fünfziger
Jahren immer wieder als schleimige Klumpen den Fischern ins Netz
geht. Vor allem südlich von Bornholm und im Gotland Becken, wo Schleppnetze
die giftige Masse vom Meeresboden abkratzen können.
Spezialeinheiten der Dänischen Marine stehen für akute Notfälle
ständig bereit. Besondere "Erste Hilfe Koffer" an Bord der Fischerboote
sollen das Schlimmste verhindern.
Dr.
Vadim Paka sieht die größte Gefahr noch bevorstehen: "Als Wissenschaftler
müssen wir ständig das schlimmste Szenario vor Augen haben und annehmen,
dass das Auslaufen der Gifte am Meeresboden seinen Höhepunkt noch
nicht erreicht hat. Wir vermuten, dass ein Großteil der Sprengkörper
erst in den kommenden Jahren durchrosten wird. Deshalb müssen wir
erneut intensive Untersuchungen anstellen, um schnell einen Plan
für den Ernstfall zu entwickeln."
Auf
dem Gelände des ehemals geheimen Marinestützpunkts "Baltisk" bei
Kaliningrad bauen die Russen ein neues Forschungszentrum, in dem
die nächsten Schritte im Umgang mit chemischen Kampfstoffen in der
Ostsee erarbeitet werden sollen.
Zuerst müssen bessere Methoden entwickelt werden, die Munitionskörper
zu orten. Von den Schiffswracks samt Ladung im Skagerrak abgesehen,
liegen die übrigen Bomben kilometerweit am Meeresgrund verstreut
und werden zu einem Großteil bereits von Sedimentschichten verdeckt.
Nach der Ortung folgt die Entsorgung. Kunststoff-Pflaster, wie sie
die Russen in anderen Fällen unter Wasser erfolgreich verwendet
haben, wären eine Möglichkeit. Das favorisierte Lösungsmodell sieht
jedoch eine Art Gel vor, das die Sprengkörper umschließt und so
ein weiteres Ausdringen giftiger Substanzen verhindern soll. Ein
Vorschlag, den deutsche Experten als zu aufwendig und zu teuer abtun.
Andere Ideen aber gibt es bisher nicht - und immer mehr Kritiker
unterstellen den europäischen Regierungen, dass sie das Problem
verharmlosen.
Lagerstätten chemischer Waffen in der Ostsee |
Ort |
Munitionsmenge |
Chemiemenge |
Chemietype |
Skagerak |
ca. 150.000 t |
ca. 30.000 t |
|
Bornholmbecken |
35,300 t
bis 43,399 t |
5,300 t
bis 6,500 t |
mustard, Clark I, Clark II, Adamsite, chloroacetophenone,
phosgene, nitrogen mustards, Tabun |
Südwestlich Bornholm |
Bis zu 15,000 t |
2,250 t |
unknown |
Gotlandbecken |
2,000 t |
300 t |
unknown |
Kleiner Belt |
5,000 t |
750 t |
Tabun, phosgene |
|